„Man kann auch in der Kunst wie in allen Dingen nur auf festen Grund bauen.“
(Igor Strawinski)
Partimenti sind Sätze, die im 18. Jahrhundert im Unterricht in Neapel verwendet wurden, um Studierenden das Generalbass- Spiel, aber auch das Komponieren und freie Fantasieren beizubringen. Es handelt sich um didaktisch ausgerichtete bezifferte oder unbezifferte Bass-Stimmen, anhand derer typische Modelle der Stimmführung, Harmonik, Form und Motivik eingeübt werden.
“Improvisieren ist auch nicht an geniale schöpferische Begabung gebunden, sondern ist das Ergebnis handwerklichen Könnens. Ob es zur Meisterschaft kommt oder im »Organistenzwirn« steckenbleibt, hängt vom Grad der Musikalität, von spielerischen Fähigkeiten und entscheidend fleissiger Übung ab.“ (H. Kelletat, 1975)
Das Spektrum der Improvisation reicht in der Musik von der spontanen Verzierung / Diminution, der Ausschmückung und Abwandlung vorgegebener Melodien über die harmonische Variation bekannter Lieder bis hin zur freien, tonal ungebundenen Erfindung von Musik.
Und auch, wenn die Improvisation in anderen Musiksparten wie der Volks-, Pop- und Kirchenmusik oder Jazz nach wie vor unzweifelbarer Bestandteil ist, hat sie in der klassischen Musikszene - trotz ihrer ungebrochenen historischen und pädagogischen Relevanz - bereits im 19. Jahrhundert begonnen, massiv an Bedeutung zu verlieren und verschwand im 20. Jahrhundert schliesslich nahezu vollständig aus den Curricula der Musikausbildungsgänge und von den Konzertpodien.
Im 18. Jahrhundert verlangte die Generalbass- bzw. Partimento-bezogene Ausbildung eines Schülers schon im Kindheitsalter die praktische Auseinandersetzung mit improvisatorischen Techniken, wohingegen mit der Teilung in verschiedene, deutlich voneinander getrennte musikalische Ausbildungsbereiche und der Entwicklung von Konservatorien mit einer großen Schülerschaft, die Ausbildung der sog. theoretischen Fächer zum großen Teil vom Instrument an die Tafel verlegt wurde und das Gebiet der Improvisation schließlich gänzlich wegfiel. (vgl. H. Ludwig: Feindliche Übernahme)
Mit der Ablösung von der im 18. Jahrhundert noch intakten und auch musikästhetisch fundierten Ausbildung im Sinne einer umfassenden „ars“, als deren Vorbild und Leitbild der Neapolitanische Musiker galt, entstand im „bürgerlichen“
19. Jahrhundert eine neue Form der Kunstanschauung und einhergehend damit auch der Musikvermittlung, in der die alten Ideale eines regelpoetischen Kunstbegriffs von der romantischen Genieästhetik und einer sie begleitenden künstlerischen „Arbeitsteilung“ abgelöst wurden, die sich bis heute in der Struktur der Musikhochschullandschaft widerspiegeln, namentlich im Bereich der klassischen abendländischen Musik.
Die Aufhebung der Einheit von Interpret und Komponist, das neue bürgerliche Musikverständnis des 19. Jahrhunderts, schuf eine vorher nie gekannte Kluft zwischen Spieler und Werk und somit auch zwischen Interpretation, Improvisation und Komposition.
Das nahezu vollständige Verschwinden der historischen Improvisation aus den Lehrplänen musikpädagogischer Institutionen ist jedoch ein umso bemerkenswerterer Umstand, bedenkt man, dass in der modernen „klassischen“ Musikausbildung der Großteil des Lehrkanons auf historischen Kompositionen basiert, zu deren Genese, angemessenem Verständnis und authentischer Ausführung eine Kenntnis und Praxis historisch-improvisatorischer Techniken eigentlich eine wesentliche Voraussetzung darstellen würden.
Parallel zum Konzept der modernen Hochschulausbildung des letzten Jahrhunderts hat die Historisch Informierte Aufführungspraxis sich seit den 50er Jahren mit einer Rückbesinnung auf historische Lehrbücher, Werte und Lehrtraditionen beschäftigt, und versucht, sich damit wieder einem ursprünglichen Musikbegriff anzunähern, aus dessen Geist ein Großteil des noch heute gespielten Werkekanons entstammt.
Mit der Rückbesinnung auf die historischen Kontexte ist schleichend auch eine Anpassung der Lehrpläne einhergegangen: Inzwischen gibt es an nahezu jeder Musikhochschule Abteilungen für Alte Musik, der Fächerkanon wird zunehmend erweitert (Generalbass als Pflichtfach, Verzierungslehre, Historische Satzlehre, Notation etc.), neue Stellen werden ins Leben gerufen.
Der einzige Bereich, der dabei noch immer deutlich hinterherhinkt, ist derjenige der Improvisation, obgleich er ebenso integraler Bestandteil der historischen Musikpraxis war.
Allerdings sind - gerade in letzter Zeit - zahlreiche historische Lehrbücher neu aufgelegt, bzw. kommentiert worden, neue sind entstanden; hervorgehoben seien hierbei vor allem die gerade herausgegebenen Partimentoschulen von G. Paisiello, G. F. Händel und F. Durante sowie Publikationen des Basler Kreises. Forschungsgruppen zum Thema haben sich gebildet, wie z.B. die Forschungsgruppe für Improvisation Basel („FBI“) und des Fachbereichs für Musiktheorie der Hochschule für Musik Freiburg; auch international widmen sich Fachspezialisten diesem Themengebiet.
Darüber hinaus haben in jüngster Zeit einige Hochschulen in den Abteilungen für Alte Musik begonnen, die „Historische Improvisation“ als Fach wieder neu einzuführen. Kritisch betrachtet existiert jedoch immer noch eine große Kluft zwischen theoretischer Auseinandersetzung und praktischer Umsetzung auf diesem Gebiet.
Diese Kluft ein Stück weiter zu schließen war und ist mir ein besonderes Anliegen.
Das Partimento steht in F-Dur und beginnt mit einem kadenziellen Eröffnungsmodell:
Die darauffolgenden Takte (T.) 3-5 bilden eine Kadenz:
Die Reduktion dieser Kadenz ergibt folgendes Gerüst:
Diese Kadenz aus T. 3-5 lässt sich in imitatorischer Vorwegnahme (Anticipatio) als Oberstimme mit dem Eröffnungsmodell aus T. 1-3 verknüpfen:
Durch diese Verknüpfung entsteht die letzte der bereits präsentierten Varianten des Eröffnungsmodells: „Quart-Vorhalt mit Sext-Auflösung“.
Dieses Modell ist auch in Umkehrung anwendbar:
Die ersten fünf Takte des Partimentos
können also folgendermaßen ausgesetzt werden:
Es entsteht eine Doppelfuge - eine Technik, die vor allem im Barock sehr beliebt war.
Zu Anfang ist es wichtig, eine möglichst schlichte, naheliegende und logische Aussetzung zu (er-)finden und diese möglichst konsequent durch das gesamte Partimento beizubehalten. Es geht zunächst rein um den handwerklichen Aspekt, weniger um eine kunstvolle, möglichst variantenreiche Aussetzung.
Aus diesem Grund sollte der Spieler ein Modell immer in allen Tonarten und Umkehrung üben.
Das dies von großem Nutzen ist, kann man gleich in den darauf folgenden Takten des Partimentos (T. 5-9) feststellen. Das Modell aus Takt 1-5 erscheint hier in der Dominante der Ausgangstonart, in C-Dur:
Nach der Verarbeitung des Eröffnungsmodells, folgt ein neuer Sequenztypus, der „Quartstieg“:
Reduziert man diese Sequenz auf ihr Gerüst, wird die Quart-Struktur sichtbar:
Der Quartstieg entspricht der Bassklausel und wird häufig mit der Altklausel kombiniert, da im Barock die Gegenbewegung (motus contrarius) als die schönste Stimmführung galt und die Terz als unvollkommene Konsonanz am Schluss eine weitere Sequenzierung ermöglicht.
Es wird daher folgende Aussetzung empfohlen:
Da die Unterstimme bereits vorgegeben ist, sollte bei der Aussetzung zunächst die Oberstimme figuriert werden.
Im Folgenden werden - als „Starthilfe“ und Inspiration - einige Möglichkeiten zur Ausfigurierung der Altklausel durchgespielt.
In Takt 22-27 ist eine Synkopenkette zu erkennen. In solchen Fällen kann die 2-x-Konsekutive Anwendung finden:
Die Takte 27-39 ähneln dem Partimento von G. Tritto:
Es folgen verschiedene Aussetzungen des gesamten Partimentos.
Abgesehen von den Kadenzen, setzt sich das ganze Partimento aus den immer gleichen, bereits bekannten Modellen zusammen.
Diese erscheinen lediglich in anderen Tonarten und werden daher an dieser Stelle nicht mehr erläutert.
Die erste Aussetzung ist möglichst schlicht gehalten, damit die einzelnen Modelle schnell erkannt werden können und eine sichere Ausgangsbasis für die kommenden Übungen geschaffen wird.
Zur Überprüfung folgt eine Version als Lückentext; anschließend werden zwei unterschiedlich ausgeprägt figurierte Versionen präsentiert.
Die hier vorgestellten Aussetzungen sind lediglich Vorschläge und sollen als Inspiration dienen - zahlreiche andere Aussetzungen sind ebenso möglich.
Die vorgestellten Möglichkeiten der Umsetzung und Figuration einzelner Modelle in der gesamten vorliegenden Arbeit gipfeln in der eigenständigen Umsetzung dieses Partimentos durch den Spieler.
Der Komplexität und Kunsthaftigkeit der eigenen Aussetzungen sind prinzipiell keine Grenzen gesetzt.